Geschichte
Die FDP.Die Liberalen Graubünden
Schriftenreihe der FDP Graubünden (Heft IV)
Herausgegeben von Dr. Werner Backes +
Von den Parteien im alten Freistaat bis zur Gründung des Kantons Graubünden 1471 –1803
Parteien, allerdings nicht ganz in unserem heutigen Sinn, gab es bereits im alten Freistaat Gemeiner Drei Bünde. Ja, es ist sogar anzunehmen, dass es Gruppierungen und Parteien gab, solange es Bündner gibt, denn es entspricht durchaus Bündner Wesen, nicht immer einheitlich zu denken und zu handeln. Bereits im frühen Mittelalter traten die Bauern, heute würde man sagen die Partei der Bauern, dem Feudaladel gegenüber. Im 16. und 17. Jahrhundert, aber auch noch viel später, war die Parteiung vorwiegend nach der Konfession der Mitglieder ausgerichtet, wobei sich aber auch vor allem aussenpolitische Gegensätze bemerkbar machten. Zur Zeit der "Bündner Wirren" gab es eine "Oesterreichisch-Spanische" und eine "Französisch-Venezianische Partei". Der Idealismus dieser Parteianhänger war allerdings nicht immer sehr gross, denn ihre Parteiführer standen im allgemeinen im Dienste fremder Mächte. So wurde das Land zum Tummelplatz eines Parteifanatismus, der künstlich angeheizt wurde. Zur Zeit der Französischen Revolution und des Unterganges der Alten Eidgenossenschaft gab es bei uns die "Partei der Patrioten" und jene der "Aristokraten". Die Patrioten kämpften für den Anschluss an die Helvetische Republik, während ihre Gegner, die Aristokraten, für die Weiterdauer ihrer Privilegien kämpften und sich zu diesem Zwecke mit den Österreichen verbündeten. Dass dann allerdings die Bündner Untertanengebiete Veltlin, Bormio und die Grafschaft Clefen vom Kaiser der Franzosen der Cisalpinischen Republik zugeteilt wurden, dies konnten auch die frankreichfreundlichen Patrioten nicht verhindern. Die Patrioten vertraten die Ideen der Französischen Revolution und galten gewissermassen als Bündner Jakobiner. Es ist daher nicht falsch, von einer "Bündner Jakobinerpartei" zu sprechen. Wir können die Partei der Patrioten aber auch ohne weiteres als Vorgänger der Freisinnigen betrachten, vertraten ihre Anhänger doch energisch die Ideen der Freiheit und des Liberalismus gegenüber den Vorrechten des Adels. Die Gegensätze zwischen Patrioten und Aristokraten waren so gross, dass erstere, als noch die Aristokraten die Macht ausübten, ausser Landes fliehen mussten. Dass aber auch nicht alle Handlungen der Patrioten immer sehr menschenfreundlich waren, muss als Folge der damals herrschenden Zustände betrachtet werden.
In seinem Werk "Geschichte des Kantons Graubünden 1798 - 1848" widmet Peter Metz diesen Patrioten mit Recht ein spezielles Kapitel, gehörten ihnen doch sehr massgebende Bündner Politiker wie Johann Baptista von Tscharner, Vinzens Planta, Aloys Jost - der als grösster und radikalster Jakobiner Graubündens bezeichnet wurde -, Jakob Ulrich von Sprecher und - katholischerseits - Georg Anton Vieli, sowie viele andere an.
Der Grossteil der Katholiken, wie auch der Bischof von Chur, waren jedoch Anhänger der Aristokraten. So lesen wir in zeitgenössischen Berichten, dasses ihnen mit dem Hilfeschrei: "Der Wolf kommt über Altar und Gemeinde" gelang, sich beim Volk glaubhaft zu machen. Und in einem Bericht der Patrioten heisst es: "Wie Makkabäer donnerten die Pfarrer von den Kanzeln herunter gegen die Vereinheitlichung mit der Eidgenossenschaft". Möglicherweise sind hier aber auch die protestantischen Kanzeln gemeint. Sei es, wie es wolle. Dem Streit zwischen Patrioten und Aristokraten ein Ende bereitete im Jahre 1799 General Masséna, der die bestehenden Behörden in Graubünden als aufgelöst erklärte und eine provisorische Regierung von Patrioten bestellte, mit Anschluss an die Helvetische Republik. So kam Graubünden am 9. April 1799 zur Schweiz. Ein nicht gerade heroischer Akt, aber immerhin historisch von bleibender Bedeutung. An die Stelle der Patrioten und der Aristokraten traten nun die "Unitarier" und die "Föderalisten", so dass man nunmehr von der Partei der Unitarier und jener der Föderalisten sprechen kann. Erstere wünschten eine möglichst starke und unabhängige Eidgenossenschaft, was zur Folge hatte, dass die französischen Machthaber jetzt die Föderalisten unterstützten. Um ihre Vorrechte aufrechtzuerhalten, strebten sie aber nach wie vor den Anschluss an Österreich an. Es versteht sich von selbst, dass nunmehr die "Partei der Unitarier" als Vorgängerln der Bündner Freisinnigen bezeichnet werden kann.
Von der Gründung des Kantons Graubünden bis zur Entstehung des Bundesstaates 1803-1848
Die Devise der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" fand auch im Kanton Graubünden zahlreiche Anhänger, die als Vorläufer der Freisinnigen angesehen werden können. Speziell das Prinzip der "Freiheit" und der "Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze" galt für die Vorläufer der Freisinnigen als Leitmotiv, auch während der Restaurationszeit von 1815 1830.
Mit der "Brüderlichkeit" war es allerdings nicht sehr weit her, denn im Bündner Grossen Rat, der 1803 zum erstenmal zusammentrat, hatten die Aristokraten, die sich bald einmal "Konservative" nannten, die grosse Mehrheit. Aber auch die "Patrioten", die nunmehrigen "Unitarier", waren recht aktiv, und sie konnten verhindern, dass der Wunsch der Konservativen auf Loslösung von der Eidgenossenschaft und Anschluss an Österreich erfüllt wurde. Nach dem Sturz Napoleons führten sich manche Aristokraten so auf, dass man sie vielfach als „Anarchisten" bezeichnete. Sogar Umsturzversuche wurden unternommen, so dass selbst die konservative Regierung einschreiten musste. Tatsache ist aber, dass der Anschluss an die Schweiz vielen Bündnern nicht leicht fiel, und in einer zeitgemässen Chronik ist zu lesen: "Wenn der Landammann der Schweiz befiehlt, ist's dem Bündner ebenso, als ob Napoleon seinen Korsen oder Mohammed seinen Muselmanen befehle. Besser noch einem grossen Monarchen als einer Excellenz von Zürich zu gehorchen".
Ab 1831 erscheint die freisinnige "Bündner Zeitung", doch ist gleichzeitig in einer anderen Zeitung zu lesen, dass Chur das "Zentrum der freisinnigenBanditen wurde, das deutschen Flüchtlingen Unterkunft gewährte". Viele wurden übrigens während der Restaurationszeit wegen ihrer liberalen Gesinnung verfolgt, und auch in kirchlichen Dingen ging es nach dem Sturz Napoleons merkwürdig zu. So wurde 1821 von der protestantischen Kirche die Glaubens- und Gewissensfreiheit verboten und für Theologiestudenten ein Heiratsverbot erlassen. Die Liberalen galten bei beiden Konfessionen als Ketzer. 1830 brach in Frankreich die liberale Juli-Revolution aus, was unseren Liberalen einen gewaltigen Aufschwung gab. Diese Bündner Liberalen waren übrigens viel weniger radikal als jene anderer Kantone, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass es trotz allem bei uns schon vor 1830 mehr Freiheiten gab als in anderen Gebieten der Schweiz. Aber auch in Graubünden machten nun die "Radikalen" vor allem bei den jüngeren Bürgern grosse Fortschritte. Sie verlangten klipp und klar anstelle des schwachen Staatenbundes einen Bundesstaat. Dieses Verlangen scheiterte aber vorläufig an der konservativen Mehrheit der Tagsatzung. Sogar im katholischen Oberland entstand unter Führung von Alois de Latour eine radikale Gruppierung, die eine eigene Zeitung, "Grischuna Romantsch" herausgab. In Chur hatten unterdessen die Liberalen die Zunftherrschaft abgeschafft, und im Grossen Rat setzten sie sich energisch dafür ein, dass die Mehrheit der Gerichtsgemeinden durch jene im Grossen Rat ersetzt werde. Mit besonderem Elan verfochten jüngere Lehrer, Turner und Schützen die freisinnigen Ideen, wobei das Eidgenössische Schützenfest 1842 in Chur einen Höhepunkt darstellte.
lm gleichen Jahr gründete P. C. von Planta den Reformverein, der sich über den ganzen Kanton verbreitete und zum Ziele hatte, veraltete Zustände zu beseitigen und durch neue Einrichtungen zu ersetzen. Dieser liberale Verein war aber keine politische Partei, gehörten ihm doch Leute verschiedener Richtung an. Was für ein Durcheinander damals in unserem Kanton herrschte, ist aus einer Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1846 ersichtlich: "Früher kannte man nur freie Schweizer, heute Aristokraten, Radikale, Ultra-Konservative, Liberale, Ultra-RadikaIe, Kommunisten“. Vom Sonderbund erhofften sich die Föderalisten, wie sich die Konservativen nun gerne nannten, "einen vom Gift des Radikalismus befreite Staatenbund". Die Radikalen hingegen wünschten "die Niederringung der ultramontanen und föderalistischen Reaktionäre". Im Sonderbundskrieg (1847) sprach sich Graubünden dank der Tätigkeit der Freisinnigen für die militärische Intervention gegen den Sonderbund aus, allerdings "mit Bedauern". 1843 erschien der freisinnige "Freie Rätier", dem von den Radikalen allerdings konservativ-aristokratische Tendenzen vorgeworfen wurden. Im entscheidenden Jahre 1848 stimmte das Bündnervolk dank der Tätigkeit der Liberalen und Radikalen der neuen Bundesverfassung mit einer Mehrheit von 54 Gerichtsgemeinden gegen deren 12 zu. Selbst nach der Gründung des Bundesstaates gab es bei uns noch keine politischen Parteien, wie wir sie heute kennen, hingegen parteiähnliche Gruppierungen, wie die gemässigten Liberalen, die Liberal-Konservativen und bald einmal die Freisinnigen. Die heutigen politischen Parteien entstanden erst imVorfeld der Bestrebungen zur Revision der Bundesverfassung in den Jahren 1872/74.
Von der Gründung des Bundesstaates bis zur Jahrhundertwende 1848 -1900
Nach der Annahme der Bundesverfassung im Jahre 1848, durch die der Schweizerische Staatenbund in einen Bundesstaat umgewandelt wurde, musste auch die Bündner Kantonsverfassung geändert werden, was den Bündnern sichtlich schwer fiel. Erst nach zwei vergeblichen Versuchen gelang dies im Jahre 1853. Mit dieser Verfassung wurde der Kanton in 14 Bezirke, 39 Kreise und 227 Gemeinden eingeteilt, was im Prinzip der heutigen Einteilung entspricht und ohne Zweifel einen Fortschritt darstellte. Den freisinnigen Wünschen entsprach diese Verfassung aber nur zum kleinsten Teil, denn die Zeit für die Verwirklichung liberaler Grundsätze war noch nicht gekommen. Noch lange gab sich die Konservative Partei als die einzig wahre Volkspartei aus und bezeichnete die Freisinnigen gleichsam als "Eindringlinge mit perversen, das Volk verderbenden Ideen". In den Augen der Konservativen war es verpönt, von Parteien überhaupt nur zu reden. In ihren Augen brauchte man sie nicht, denn das Volk war für sie die einzig richtige Partei und ihre Führer die einzig richtigen Vertreter. In den "Rheinquellen" von 1860 ist zu lesen, dass es damals neben der Progressiven Partei, die den Wünschen der Liberalen entsprach, eine Konservative Partei des Aristokratismus mit Bevorrechtigungssucht einzelner Familien gab. So war es Zeit, dass 1868 Florian Gengel nach Chur kam, dort den "Freien Rätier" übernahm und den Schritt zur Bildung einer offiziellen Partei, der "Freisinnig- Demokratischen Partei Graubünden" wagte. Ihr unmittelbares Ziel war die Erweiterung der Volksrechte und die Einführung der Zivilehe. Zusammen mit einigen Mitgliedern des Grossen Rates bildete Florian Gengel die "Junge Garde", zu der auch die Bundesrichter Bezzola und Olgiati gehörten. lm Vorfeld der Abstimmung der noch heute gültigen Bundesverfassung von 1874 brach in unserem Lande ein Kulturkampf aus. Es ging dabei vor allem um die "Unfehlbarkeitserklärung des Papstes" und war vor allem dort lebhaft, wo sich zwei katholische Richtungen gegenüber standen: die liberalradikalen Katholiken und die Konservativen. So kam es auch in unserem Kanton zu lebhaften Auseinandersetzungen zwischen den "Revisionisten" (Revis) und den "Antirevisionisten" (Antis). Seit dem Untergang des alten Freistaates hatte es in Graubünden keine so scharfen Gegensätze mehr gegeben, wie zwischen diesen. Das ging so weit, dass sich manche Bürger nicht mehr grüssten und viele Wirtschaften wurden nur von den Anhängern einer Partei besucht. Nach der Annahme der Bundesverfassung von 1874 hatten diese Bezeichnungen keinen Sinn mehr, so dass sich die Revisionisten nunmehr "Freisinnige" oder "Liberale" und die Antirevisionisten "Konservative" nannten. Die Organisation der Freisinnig-Demokratischen Partei blieb aber auch nach 1874 noch lange Zeit ungenügend. Die Parolen wurden von der Grossratsfraktion ausgegeben, oft sogar vom Vorstand. Somit bestimmte die Fraktion die freisinnige Politik und stellte die Kandidaten für die Ständerats- und Nationalratswahlen. In den Gemeinden gab es noch keine Parteisektionen. Nachteilig war aber nicht nur die Parteiorganisation, sondern vor allem die Uneinigkeit ihrer Anhänger, von denen die Altliberalen die Mehrheit hatten.
Immerhin erhielten die Kandidaten der Freisinnig-Demokratischen Partei im Jahre 1873 eine überwältigende Mehrheit im Grossen Rat: 46 Mandate gegen 26 der Konservativen. Dies hatte zur Folge, dass im Jahre darauf die Freisinnigen alle Regierungs- und Ständeratssitze besetzten. Nachdem 1881 durch eine Verfassungsänderung dem Volke die Wahl der Ständeräte übertragen wurde, fielen beide Ständeratssitze wieder an die Konservativen. Infolge der Uneinigkeit der Freisinnigen blieb dies so während 12 Jahren. Der erste vom Volk gewählte freisinnige Ständerat war der bisherige Nationalrat Luzius Raschein. Unter Führung von Felix Calonder, der das geistige Haupt der Liberalen wurde, machte die FDP in den Jahren 1880 -1892 weitere grosse Fortschritte. Damals entstanden auch die heutigen Ortsparteien, und die Parteiorganisation wurde ganz allgemein verbessert. Unter sich waren die Freisinnigen aber recht uneinig, und es begann bald einmal eine Verselbständigung ihres linken Flügels. Die "Radikalen" unterschieden sich nun klar von "Liberalen". Liberales Parteiorgan wurde der "Freie Rätier", radikales die "Bündner Nachrichten". 1892 wurde dann der "Freie Rätier" das offizielle Parteiorgan der Bündner Freisinnigen. 1890 gründete Fritz Manatschal die "Radikal-Demokratische Gruppe", die eine jungfreisinnige Bewegung befürwortete, aber keine Trennung von der Mutterpartei wünschte. Diese Gruppe verfocht eine fortschrittliche Sozialpolitik, so fortschrittlich, dass 1892 namhafte Bündner Freisinnige als Gegengewicht gegen diesen Linkskurs die "Neue Bündner Zeitung" ins Leben riefen. Zu dieser Zeit wurde auch die Kantonsverfassung nochmals den Wünschen der Freisinnigen angepasst, indem die Verfassungsrevision von 1894 die Einführung in das Departementalsystem in der Regierung, die Erhöhung der Zahl der Regierungsräte von 3 auf 5, die Verlängerung ihrer Amtszeit und vor allem die Wahl derselben durch das Volk vorsah. Es erstaunt nicht, dass bei den stets grösser werdenden Differenzen zwischen den Altliberalen und den fortschrittlichen Gegnern diese Blütezeit des Freisinns nicht ewig andauern konnte, ganz abgesehen davon, dass alle politischen Parteien unseres Landes stets ihre Höhepunkte und Zeiten des Niederganges erlebt haben.
Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1900 -1943
Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hatte die FDP in Graubünden die klare Mehrheit. 3 von den 5 Mitgliedern des Kleinen Rates, 4 von den 6 Nationalräten und jeweils 1 Ständerat waren freisinnig. Im Grossen Rat waren 1919 51 der 99 Grossratssitze von Freisinnigen besetzt, wovon 5 Jungfreisinnige. Sogar im Bundesrat war damals der Bündner Freisinn vertreten, indem 1913 Felix Calonder als Mitglied gewählt wurde. Damit war der Höhepunkt des Bündner Freisinns erreicht. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Schweiz eine Jungfreisinnige Vereinigung, mit dem Ziel, den Freisinn innerlich zu verjüngen und soziale Verbesserungen zu erzielen. Solche Gruppen entstanden 1915 auch in Davos und 1918 in Chur. 1917 stellten die Bündner Jungliberalen das Begehren, eines der 4 Nationalratsmandate ihnen zu überlassen, was aber abgelehnt wurde mit der Begründung, man sei eine freisinnige Partei und verfalle nicht in Gruppen. Dafür beschloss man einen "Bürgerblock" mit den Konservativen. Dieser Bürgerblock war den Jungfreisinnigen ein Dorn im Auge und führte 1919 zur Spaltung. An einer Sitzung des Zentralvorstandes der FDP Graubünden wurde der Beschluss gefasst, für die Nationalratswahlen, die zum erstenmal nach Proporz durchgeführt wurden, eine komplette Sechserliste mit 4 Freisinnigen und 2 Konservativen aufzustellen. Von den 4 Sitzen wollte man 1 Mandat den Jungfreisinnigen überlassen. Diese wünschten jedoch 2 Mandate und vor allem keine Listenverbindung mit den Konservativen. Kurz darauf fand der erste kantonale Parteitag der Jungfreisinnigen mit dem neuen Namen „Demokratische Partei" statt. Diese strebten eine Listenverbindung mit den Freisinnigen an, was von diesen jedoch am Parteitag vom 28. September 1919 abgelehnt wurde. Damit war die Trennung vollzogen. Offizielles Organ der Demokratischen Partei wurde die "Neue Bündner Zeitung", jenes der Altfreisinnigen "Der Freie Rätier". Es ist klar, dass vom Riss im protestantischen Lager die Konservativen profitierten. 1920 trat Felix Calonder aus dem Bundesrat zurück, und im gleichen Jahr wurde Pfarrer Christian Michel als erster demokratischer Regierungsrat auf Kosten der Freisinnigen gewählt. Bei den Kreiswahlen 1923 erhielten die Freisinnigen noch 49 Sitze. Die bisherigen 5 Sitze der Jungfreisinnigen gingen nun jedoch definitiv an die Demokraten. Die Altfreisinnigen hielten es für angebracht, die etwas erweiterte Dissertation von Dr. Andreas Gadient gerichtlich anzufechten. Diese Schrift wurde dann wegen Verunglimpfung und Beleidigung verboten und der Verfasser der Ehrverletzung schuldig erklärt, was zur Folge hatte, dass er fast als Märtyrer der Pressefreiheit galt und die Sympathie des Volkes auf seine Seite ging. Tatsache ist, dass Dr. Gadient vor allem gegen die Tendenzen kämpfte, die Schweiz unter ein autoritäres Regime zu bringen. Auch trat er während der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre für eine aktive Konjunkturpolitik ein, während die Freisinnigen diese Krise gewissermassen als eine Naturkatastrophe ansahen, die man nicht ändern kann. Hinzu kam, dass die Bündner Kraftwerke, deren massgebende Leute freisinnig waren, finanzschwach wurden und zahlreiche Bürger ihr Geld verloren. Bei den Nationalratswahlen 1925 gingen die Listenstimmen der Freisinnigen von 51'000 auf 39'000 zurück, während sich jene der Demokraten fast verdoppelten. So kam Andreas Gadient in den Nationalrat und blieb dort 34 Jahre lang. 1926 schlugen die Demokraten für die Wahl in die Regierung 2 Kandidaten vor. Infolge der gemeinsamen Fünferliste mit den Konservativen gelang es aber den Freisinnigen, ihre drei Kandidaten durchzubringen, was zur Folge hatte, dass die Demokraten ganz in die Opposition gingen. 1931 hatte die FDP mit 49 Mandaten von 99 im Grossen Rat fast noch die absolute Mehrheit. Von nun an ging es aber rapid abwärts, und 1932 zogen die Demokraten mit Dr. Albert Lardelli definitiv in die Regierung ein. Dass Gadient in seinem Kampf gegen die Fröntler und die Krise wie ein alttestamentarischer Prophet auftrat, verstärkte seinen Nimbus als Volkstribun, der aber ab 1939 mit seinem Eintritt in die Regierung verblasste. Wie hart der Kampf zwischen Freisinnigen und Demokraten war, ist auch daraus ersichtlich, dass "Der Freie Rätier" eine Ansprache Gadients mit dem eher geschmacklosen Titel "Der Führer sprach" versah. Zu Beginn der dreissiger Jahre wurde verschiedentlich der Versuch unternommen, Freisinnige und Demokraten zu versöhnen, indem man sie zur "Evangelischen Partei" verschmelzen wollte. Dieser Versuch, welcher der Zeit nicht mehr entsprach, musste jedoch scheitern. 1933 hatten die Freisinnigen noch 46 Grossräte, 1935 deren 30, und so ging der Krebsgang weiter bis zum Jahre 1945 mit sage und schreibe noch 13 Mandaten. Besonders schmerzhaft ist auch die Tatsache, dass die Freisinnigen 1935 auch noch ihr zweites Ständeratsmandat verloren und seither in diesem Parlament nicht mehr vertreten sind. Andreas Laely aus Davos war der letzte freisinnige Ständerat aus Graubünden. 1937 verdrängten die Demokraten die Freisinnigen von der Spitze im Grossen Rat, indem sie 34, die Freisinnigen aber nur noch 29 Sitze erhielten. 1941 ging ein weiterer freisinniger Sitz in der Regierung an die Demokraten, und seither ist der Freisinn nur noch mit 1 Mitglied in derselben vertreten. Damit war der Krebsgang der Freisinnig-Demokratischen Partei beendet. Dank einer sozialeren und fortschrittlichen Politik, die sich nun wieder nach den Idealen eines zeitgemässen Liberalismus orientiert, konnte es jetzt wieder aufwärts gehen. Seit 1945 ist dies in der Tat geschehen, und die Demokraten mussten einsehen, dass auch ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute 1943 -1990
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges kann die Geschichte des Bündner Freisinns als historische Entwicklung bezeichnet werden. Was seither geschah, ist für einen eigentlichen geschichtlichen Rückblick noch zu jung, und es wird Sache späterer Generationen sein, festzustellen, was historisch Bestand hat und was nicht. Immerhin, einige wichtige Tatsachen verdienen es, hervorgehoben zu werden. So ritt die Demokratische Partei im Jahre 1944 eine heftige Attacke gegen den politischen Katholizismus. Dr. Cadient wandte sich energisch gegen das Zusammengehen der FDP mit der Konservativen Partei und sprach von "Allianzpolitik". Zweck der Übung war, die Freisinnigen aus der Koalition mit den Konservativen herauszubrechen, was ihm allerdings nicht gelang, denn in einer Deklaration der freisinnigen Grossratsfraktion heisst es: "Sollen wir dazu Hand bieten, unser Volk durch Heraufbeschwören des alten Kulturkampfes wieder zu entzweien?" Die FDP war wohl beraten, diesen, etwas künstlich aufgezogenen Kulturkampf nicht mitzumachen. Auch der Vorwurf der Demokraten gegen die Rechtsallianz Freisinn / Konservative konnte nicht mehr verfangen, denn mit dem gleichen Recht konnte man auch von einer Linksallianz Demokraten / Sozialdemokraten sprechen. Eine aufbauende, im wahren Sinne des Wortes liberale Politik, das war der gute Weg, den der Bündner Freisinn nun ging, wobei man unter "liberal" nicht etwa den Manchesterliberalismus des 19. Jh. sondern einen modernen, sozialen Liberalismus zu verstehen hat. Dass übrigens von allen Parteien Wahlbündnisse nicht nur aus idealistischen Gründen eingegangen werden, das war schon immer so und wird wohl auch in Zukunft so sein. Wie sich die FDP Graubünden von 1943 bis heute grössenmässig entwickelte, ist aus der Zahl der freisinnigen Grossratsmandate ersichtlich. Von 1943 1953 stieg Ihre Zahl von 16 auf 29 Mandate von total 120. Seither ist eine beachtenswerte Stabilität im Bündner Parteiwesen festzustellen, und die Zahl der freisinnigen Grassräte schwankt regelmässig zwischen 27 und 32. Somit sind immer etwa ein Viertel der Bündner Grossräte freisinnig. Obwohl es sich bei diesen Wahlen um Majorzwahlen handelt, dürfte dies der Stärke des Freisinns entsprechen. Gegen Ende der siebziger Jahre wäre es fast zu einem Zusammenschluss der FDP Graubünden mit den Bündner Demokraten gekommen. Nachdem wegen des Stimmenrückganges der Demokraten in mehreren Kantonen im Nationalrat keine demokratische Fraktion mehr zustande kam, stellte sich für sie die Frage, mit wem sie sich zusammenschliessen wollten. An einem freisinnigen Parteitag in Thusis wartete man gespannt auf einen entsprechenden Beschluss einer Versammlung der Demokraten in Filisur. Die Überraschung war gross, als man vernahm, dass sich diese nicht mit den
Bündner Freisinnigen sondern mit der Berner Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei zusammenschliessen wollte. Diese beiden Parteien nannten sich nunmehr .'Schweizerische Volkspartei" (SVP).
Wichtiger als reine Zahlen sind in der Politik die Persönlichkeiten. Werfen wir daher noch einen Blick auf die wichtigsten freisinnigen Behördemitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit dem Rücktritt von Bundesrat Calonder im Jahre 1920 gab es keinen freisinnigen Bundesrat mehr. Auch im Ständerat finden wir seit 1935 keinen Bündner Freisinnigen mehr. Ganz anders erfreulicherweise im Bundesgericht. 1951 wurde Dr. Silvio Giovanoli von Soglio Mitglied unseres obersten Gerichtes, das er von 1969 -1970 präsidierte. Nachdem er Ende 1972 zurücktrat, wurde am 6. Dez. 1972 Dr. Rolf Raschein von Malix in unser höchstes Gericht gewählt, das er auch präsidierte.
Im Nationalrat war der Bündner Freisinn durch folgende Persönlichkeiten vertreten:
1943 - 1947 Adolf Nadig, Chur
1948 - 1950 Dr. Gian Rudolf Mohr, Chur
1951 - 1962 Paul Raschein, Malix
1963 - 1974 Dr. Josias Grass, Chur
1975 - 1978 Jakob Schutz, Filisur
1979 - 1982 Dr. Christian Jost, Davos
1983 - 1990 Dr. Peter Aliesch, Malans
1991 - 2007 Duri Bezzola, Scuol
2007 Jürg Michel, Grüsch
2008 - 2011 Tarzisius Caviezel, Davos
Als Ständerat vertritt die kantonalen Anliegen:
2012 - Dr. Martin Schmid, Splügen
Mitglied der Bündner Regierung waren von 1943 bis heute:
1943 - 1950 Dr. Joos Regi, Zemez
1951 - 1956 Dr. med. vet. Christian Margadant, Küblis
1957 - 1964 Renzo Lardelli, Poschiavo
1965 - 1968 Dr. Heinrich Ludwig, Schiers
1969 - 1978 Jakob Schutz, Filisur
1979 - 1990 Dr. Reto Mengiardi, Ardez
1991 - 2001 Dr. Peter Aliesch, Malans (Pateiaustritt im Zusammenhang mit der „Affäre Aliesch“)
2003 - 2011 Dr. Martin Schmid, Splügen
2012 - Dr. Christian Rathgeb, Rhäzüns
Das höchste Amt als Standspräsident bekleideten:
1944 Dr. Gian Rudolf Mohr, Chur
1947 Dr. Kaspar Laely, Davos
1950 Dr. Peter Conradin Planta, Zuoz
1953 Christian Marchion, Ilanz
1957 Luigi Pacciarelli, Grono
1960 Dr. Heinrich Ludwig, Schiers
1963 Dr. Josias Grass, Chur
1966 Valentin Regi, Zuoz
1969 Dr. Hans Andrea Tarnutzer, Chur
1972 Dr. Christian Jost, Davos
1975 Gian Mohr, Chur
1978 Martin Simmen, Jenaz
1981 Dr. Ulrich Werro, Ilanz
1987 Dr. Marx Heinz, Thusis
1990 Arturo Reich, Silvaplana
1993 Urs Vogt, Chur
1996 Erwin Roffler, Davos
1999 Sina Stiffler, Chur
2003 Hans Telli, Trins
2006 Agathe Bühler-Flury, Schiers
2010 Christian Rathgeb, Rhäzüns
2014 Hans Peter Michel, Davos
Die Geschicke der Partei als kantonale Parteipräsidenten leiteten:
1943 - 1945 Robert Ganzoni, Celerina
1946 - 1950 Thomas Hew, Klosters
1950 - 1956 Paul Raschein, Malix
1956 - 1966 Dr. Kaspar Laely, Chur
1966 - 1968 Renzo Lardelli, Chur
1968 - 1974 Peter Kasper, Buchen-Luzein
1974 - 1978 Dr. Lisa Bener, Chur
1978 - 1982 Hans Melchior Ludwig, Schiers
1982 - 1986 Dr. Romano Kunz, Chur
1986 - 1993 Dr. Martin Röthlisberger, Arosa
1993 - 2000 Christian Walther, Pontresina
2000 - 2003 Dr. Hans Joos, Samedan
2003 - 2008 Dr. Christian Rathgeb, Rhäzüns
2008 - 2014 Michael Pfäffli, St. Moritz
2014 Bruno W. Claus
Mit diesem Rückblick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg können wir die wechselvolle Geschichte des Bündner Freisinns abschliessen. Wie bei allen politischen Parteien gab es Zeiten des Aufschwungs und des Niederganges. Sicher ist aber, dass der heutige Kanton Graubünden weitgehend durch den Freisinn geformt wurde, und dies wird auch in Zukunft so sein. Da die Grundlage der Freisinnig-Demokratischen Partei, der Liberalismus, gegenwärtig in der ganzen Welt einen gewaltigen Aufschwung nimmt, ist die Zeit vielleicht gar nicht mehr fern, dass auch der Bündner Freisinn bald einmal wieder im Ständerat und auch im Bundesrat vertreten sein wird. An geeigneten Persönlichkeiten fehlt es sicher nicht.
Literatur
H. BaIzer: Der Kanton Graubünden in der Mediationszeit
E. Candreia: Das Bündner Zeitungswesen im 19. Jh. bis zum Jahre 1870
F. Manatschal: Graubünden seit 1815
F. Manatschal: Aus Bündens öffentlichem Leben der letzten 50 Jahre
B. Mani: Aus der Geschichte der Demokratischen Partei Graubündens
P. Metz: Geschichte des Kantons Graubünden. 1798- 1848
C. von Moor: Geschichte von Churrätien und der Republik Gemeiner drei
Bünde ssss
Chr. Padrutt 100 Jahre FDP Graubünden
F. Pieth: Bündner Geschichte
J. M. Rascher: Altes und Neues über Volk und Parteien im Bündnerland
Protokolle des Bündner Grossen Rates. 1803- 1990
Staatskalender des Kantons Graubünden. 1803- 1990
Der Freie Rätier: diverse Nummern
Bündner Tagblatt: diverse Nummern
Neue Bündner Zeitung: diverse Nummern